Der Auswahlprozess

Nachdem klar war, dass Ersatz für die gestohlenen Kelche und Kanne, Pyxis und Patene, und auch die Taufkanne beschafft werden musste, wurden verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abgewogen, von schlichten Tonbechern, wie sie die Konfirmanden aus Taizé mitgebracht hatten, bis zu möglichst originalgetreuen Replica der gestohlenen vasa sacra. Der Kirchenvorstand entschloss sich dazu, einen eigenen Weg zu gehen und, eine Anregung aus der Gemeinde aufnehmend, einen Kunstwettbewerb auszuschreiben, gerichtet an die Studentinnen und Studenten der höheren Klassen einer Kunstakademie. Die Entwürfe sollten in der Gemeinde der Christuskirche präsentiert werden, um auch den Gemeindemitgliedern Gelegenheit zu geben, sich zu „ihrem“ zukünftigen Abendmahlsgerät eine Meinung zu bilden; die Auswahlentscheidung sollte am Ende freilich in den Händen des Kirchenvorstands und der Evangelischen Landeskirche liegen, letztere vertreten durch Herrn Kirchenrat Helmut Braun als Leiter des Kunstreferats der Landeskirche. Mit ihm wurde auch der weitere Gang der Ausschreibung abgestimmt. 

Überraschend war, dass die zunächst angesprochene Kunstakademie München dem Vorhaben zwar großes Interesse entgegenbrachte, jedoch mitteilen musste, im Silberschmieden nicht über ausreichende Kompetenzen und Kapazitäten zu verfügen, da man dort in den letzten Jahren im Wesentlichen das Goldschmieden gepflegt hatte. Die „Sondierungsgruppe“ des Kirchenvorstandes wurde an die Akademie der Bildenden Künste Nürnberg empfohlen, dort an die Klasse für Gold- und Silberschmieden von Frau Professor Suska Mackert-Niehus. Sie und vier an einer Teilnahme interessierte Studentinnen und Studenten wurden nach Gauting in die Christuskirche eingeladen, um den „genius loci“ kennenzulernen und Näheres über die Handhabung des Abendmahlsgerätes vor Ort zu erfahren. Außerdem wurden Informationsmaterialien der Landeskirche über das Abendmahl und seine Bedeutung überreicht. 

Mitte Juli 2016, etwa drei Monate nach dem Diebstahl, stand die Ausschreibung für die neuen Vasa Sacra fest: die Entwürfe sollten nach Möglichkeit als Modelle und im Maßstab 1:1 gefertigt werden, um untereinander vergleichbar zu sein und eine möglichst gute Vorstellung zu vermitteln. Einige grundlegende Kriterien, der zeitliche Rahmen und das Auswahl- und Entscheidungsverfahren wurden beschrieben und festgelegt; der Entstehungsprozess sollte durch Berichte und Bilder für die Gemeinde nachvollziehbar werden. Für jeden eingereichten Entwurf wurde ein Entwurfsgeld ausgelobt, während es für den schließlich angekauften Entwurf kein gesondertes Honorar geben sollte, sondern lediglich die Erstattung der Material- und Herstellungskosten. Hierfür stand im Wesentlichen der durch die Versicherung erstattete Schadenersatz zur Verfügung, dessen Höhe zuvor von einem Fachmann ermittelt worden war; dieser Rahmen konnte im Ergebnis auch eingehalten werden. 

Drei Studentinnen und ein Student machten sich also ans Werk, und schon Ende August 2016 konnten erste Vorentwürfe in Form von Bildern, Skizzen und erläuternden Texten dem Kirchenvorstand vorgestellt werden. Ein Besuch des festlichen Erntedank-Gottesdienstes in Gauting und ein Gegenbesuch in der Kunstakademie Nürnberg mit Besichtigung der Ateliers und der Werkstatt trugen dazu bei, die Verbindungen zwischen Kunst(schaffenden) und Kirche zu vertiefen. 

Präsentation der Entwürfe in der Christuskirche

Am 04.11.2016 stellten die Teilnehmer, begleitet von Frau Prof. Makert-Niehus, ihre fertigen Entwürfe dem Kirchenvorstand, dem Kunstreferenten der ELKB und interessierten Gemeindemitgliedern in der Christuskirche vor. Die Entwürfe blieben für gut drei Wochen im Gemeindehaus ausgestellt, und nach einem Gottesdienst bestand Gelegenheit, ein Votum für einen „Publikumspreis“ abzugeben. Der Kirchenvorstand befasste sich, moderiert von Herrn Helmut Braun, am 16.12.2016 mit den Entwürfen. Die große Spannweite der künstlerischen Ideen bewirkte eine ausführliche, lebhafte und intensive Befassung mit den Entwürfen; jeder Entwurf konnte auf seine Weise überzeugen und fand Fürsprecher. Der hohe künstlerische Wert der Arbeiten, darüber bestand Einigkeit, würde nicht dadurch geschmälert, dass für die Entscheidung über die Realisierung eines der Entwürfe auch dem Kriterium der praktischen Gebrauchstauglichkeit Raum gegeben werden muss. 

Nach intensiver Diskussion wurde beschlossen, zwei der Entwürfe in die engere Wahl zu ziehen und den beiden Künstlerinnen, Rosanna von Angerer und Angelika Kern, Gelegenheit zu geben, ihre Ideen noch einmal im Kirchenvorstand zu präsentieren und Fragen dazu zu beantworten. 

Die beiden Künstlerinnen stellten am 24.01.2017 ihre Entwürfe noch einmal ausführlich vor, wiederum moderiert von Herrn Helmut Braun. Der Kirchenvorstand brachte, dem Gedanken eines offenen Prozesses folgend, auch eigene Vorstellungen ein, so z.B. die Anregung, die hölzernen Nodi in dem Entwurf von Angelika Kern durch Bergkristall zu ersetzen, der sich auch in dem großen Ständer der Osterkerze neben dem Altar wiederfindet. Bei dem Entwurf von Rosanna v. Angerer wurde überlegt, wie die Handhabung erleichtert werden kann, ohne die Idee der als Becher konzipierten Kelche zu beeinträchtigen. Ob und ggf. wie Silberspenden einbezogen werden können, wurde ebenfalls erörtert: der aus der Gemeinde gekommene Gedanke hatte große Zustimmung gefunden, nämlich zu einer Silberspende aufzurufen, um einen Beitrag aus der Mitte der Gemeinde für die Wiederbeschaffung der Vasa Sacra zu leisten - sei es in rein wirtschaftlicher Hinsicht, oder um das Silber bei der Herstellung der Vasa Sacra zu verwenden. 

Mit einem äußerst knappen Ergebnis stimmte der Kirchenvorstand für den Entwurf von Angelika Kern. Dieser Entwurf hatte zuvor auch im „Publikumsvotum“ die meisten Stimmen bekommen. In der Realisierung gelang es, die Idee der Silberspende einzubeziehen: Es kam tatsächlich eine beachtliche Menge Silber zusammen, das von einer erfahrenen Goldschmiedin sortiert und auf Verwendungsfähigkeit überprüft wurde. Dieses Silber konnte Angelika Kern bei der Realisierung ihres Entwurfes nicht nur für die dreistufigen Füße der Kelche, die also auf dem gespendeten Silber stehen, sondern auch für die sog. „Seele“ der Kelche einsetzen, die Achse in der Mitte, mit der die Cuppa, durch den Bergkristall-Nodus hindurch, mit dem Boden verbunden wird. Das wird in der Gemeinde als ein besonders schönes Zeichen der „Verbundenheit“ mit „ihrem“ Abendmahlsgerät empfunden. Die Böden der Kelche wurden von unten mit den Inschriften Glaube, Liebe, Hoffnung und Licht versehen, so dass jeder der vier Kelche einen Namen hat. „Licht“ korrespondiert zugleich mit dem 36. Psalm (Vers 10), der über dem Altar steht: „In Deinem Lichte sehen wir das Licht“, und der auch mittels einer Lichtprojektion bei Dunkelheit außen auf die Fassade der Christuskirche geleuchtet wird. 

Inzwischen wurden die Vasa Sacra in einem festlichen Gottesdienst am 04.02.2018 eingeweiht, und die Künstlerin stellte der Gemeinde im Anschluss daran im Gemeindehaus die Entstehung noch einmal in einem kurzen und prägnant bebilderten Vortrag vor. Wir können sagen, dass die Gemeinde der Christuskirche Gauting auf diesem Wege schöne und sehr gut angenommene neue Vasa Sacra bekommen hat, an deren Entstehen Anteil genommen werden konnte, und mit denen eine besondere Verbundenheit entstanden ist. Die Evangelische Landeskirche Bayern kaufte zwei der nicht realisierten Entwürfe an, was ein weiterer Ausdruck der hohen künstlerischen Wertschätzung der vorgelegten Arbeiten ist.